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Künstliche Allgemeine Intelligenz: Was kommt nach ChatGPT und was bedeutet das für uns?

Wenn ChatGPT und Co. antworten, verstehen sie ihre Wörter nicht - sie reproduzieren lediglich die wahrscheinlichste Abfolge von Buchstaben aus ihren Trainingsdaten. Künstliche Allgemeine Intelligenz dagegen verspricht tiefes Verständnis, wie es auch das menschliche Gehirn kann.
Künstliche Allgemeine Intelligenz: Was kommt nach ChatGPT und was bedeutet das für uns?
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Das Wichtigste in Kürze:

Heutige KI ist "Enge KI" (ANI): Ein brillanter Fachidiot, der in einer Aufgabe (z.B. Sprache) übermenschlich ist, aber kein echtes, flexibles Verständnis oder Bewusstsein besitzt. Alles, was wir heute nutzen, von ChatGPT bis zu selbstfahrenden Autos, ist Enge KI.

"Allgemeine KI" (AGI) ist ein hypothetisches Ziel. Eine AGI hätte eine menschenähnliche, flexible Intelligenz und könnte jede intellektuelle Aufgabe lernen und anwenden. Sie bleibt auf absehbare Zeit Science-Fiction, da fundamentale Hürden wie echtes Weltverständnis (Common Sense) und das Begreifen von Ursache und Wirkung ungelöst sind.

Die wahre Revolution passiert jetzt: Die bereits existierende "enge" KI stellt uns vor die drängenderen und realeren Herausforderungen. Die Art, wie wir arbeiten, lernen und Wahrheit definieren, wird in den nächsten 10 Jahren nicht durch eine ferne Superintelligenz, sondern durch die cleveren "Fachidioten" verändert, die wir heute schon haben.

Wir haben uns an den "Wow-Effekt" gewöhnt. Wir bitten ChatGPT, ein Sonett im Stil Shakespeares über eine Kaffeetasse zu schreiben, und erhalten in Sekunden ein erstaunlich gutes Ergebnis. Wir lassen Gemini eine komplexe E-Mail formulieren, und der Ton ist perfekt getroffen. Wir beobachten, wie KI-Modelle Code entwickeln, Geschäftsstrategien entwerfen und wissenschaftliche Texte zusammenfassen. In diesen Momenten wirken diese Maschinen zweifellos intelligent. Sie scheinen die Welt zu verstehen.

Doch dann kommt der Wendepunkt, der Moment, in dem die beeindruckende Fassade bröckelt. Fragen Sie ChatGPT einmal, ob ein Elefant oder ein Streichholz schwerer ist. Es wird die richtige Antwort geben. Fragen Sie es dann, was passieren würde, wenn Sie versuchen, den Elefanten mit dem Streichholz anzuheben. Die Antwort wird wahrscheinlich eine logisch klingende, aber physikalisch absurde Erklärung sein. Bitten Sie es um echtes Mitgefühl, um das Verstehen einer subtilen ironischen Bemerkung oder um die Anwendung von reinem Hausverstand – und Sie stoßen schnell an die Grenzen.

Die Wahrheit ist: Die heutige KI, so beeindruckend sie auch ist, ist ein "brillanter Fachidiot". Sie ist ein Meister der Mustererkennung in den Daten, mit denen sie trainiert wurde, extrem leistungsfähig in den engen, erlernten Domänen wie Sprache und Bilderkennung. Aber sie ist meilenweit entfernt von echter, flexibler, menschenähnlicher Intelligenz.

Dieser Weekender erklärt, was der nächste, oft als fast mythisch beschriebene Schritt in der KI-Evolution – die Künstliche Allgemeine Intelligenz (AGI) – wirklich ist. Wir untersuchen, warum dieser Schritt so unvorstellbar schwer zu erreichen ist und argumentieren, warum die wahren, tiefgreifenden Umwälzungen für unsere Gesellschaft nicht in der fernen AGI-Zukunft liegen, sondern bereits heute durch die "dummen", aber extrem mächtigen KIs stattfinden, die wir schon haben.


Roboter am Laptop
AGI: Alles können, verstehen und wissen, was auch ein Mensch kann | Quelle: Mohamed Nohassi

Teil 1: Das Vokabular der Zukunft – Was ist AGI überhaupt?

Um die Debatte über die Zukunft der KI zu verstehen, müssen wir zuerst unser Vokabular schärfen. Die Forschergemeinde unterscheidet zwischen zwei fundamental verschiedenen Arten von Intelligenz, die oft durcheinandergeworfen werden. Das, was wir heute haben, und das, was das große, ferne Ziel ist.

Definition 1: Die heutige "Enge KI" (Artificial Narrow Intelligence - ANI)

Alles – und das kann nicht genug betont werden – alles, was wir heute an Künstlicher Intelligenz im Einsatz haben, fällt unter die Kategorie der Engen KI (ANI). Von den komplexesten Sprachmodellen wie GPT-5 über die kreativsten Bildgeneratoren wie Midjourney bis hin zu den fortschrittlichsten selbstfahrenden Autos.

Analogie: Das Skalpell 🔪
Eine Enge KI ist wie ein hochspezialisiertes Werkzeug. Ein Skalpell ist absolut perfekt für eine einzige Aufgabe: präzise zu schneiden. Du würdest damit aber niemals versuchen, eine Schraube einzudrehen oder einen Nagel in die Wand zu schlagen.

Genauso verhält es sich mit der heutigen KI:

  • Ein Schachcomputer wie AlphaZero kann jeden menschlichen Großmeister besiegen, aber er kann Dir nicht sagen, wie das Wetter morgen wird.
  • Ein Sprachmodell kann einen brillanten Aufsatz über die Französische Revolution schreiben, aber es hat kein physikalisches Verständnis davon, wie eine Guillotine funktioniert.
  • Ein Bildgenerator kann ein fotorealistisches Bild erschaffen, aber er hat keine Ahnung, was "Schönheit" ist.

Jede dieser KIs ist in ihrer engen Domäne, in der sie mit riesigen Datenmengen trainiert wurde, übermenschlich leistungsfähig. Aber außerhalb dieser Domäne ist sie völlig nutzlos. Sie kann ihr Wissen nicht auf neue, unbekannte Probleme übertragen. Sie ist der brillante Fachidiot, von dem wir in der Einleitung gesprochen haben.

Definition 2: Die "Allgemeine KI" (Artificial General Intelligence - AGI)

Die Künstliche Allgemeine Intelligenz, oft als AGI oder "starke KI" bezeichnet, ist das große, hypothetische Ziel, das seit den Anfängen der KI-Forschung im Raum steht. Es beschreibt eine KI mit der Fähigkeit, jede intellektuelle Aufgabe zu verstehen, zu lernen und anzuwenden, die ein Mensch ausführen kann.

Analogie: Das Schweizer Taschenmesser des Geistes
Eine AGI wäre nicht nur ein einzelnes Werkzeug, sondern ein ganzer Werkzeugkasten – ein universelles Schweizer Taschenmesser des Geistes.

Eine einzige AGI könnte am Montagmorgen die Regeln von Schach lernen und am Montagnachmittag auf Weltklasseniveau spielen. Am Dienstag würde sie sich mit Malerei beschäftigen und einen neuen Kunststil entwickeln. Am Mittwoch würde sie die neuesten wissenschaftlichen Paper zur Fusionsenergie lesen, eine Schwachstelle in den aktuellen Theorien finden und eine neue, testbare Hypothese aufstellen. Und am Donnerstag würde sie sich ein YouTube-Video ansehen und lernen, wie man ein Fahrrad repariert.

Der entscheidende Punkt ist das Transferlernen: die Fähigkeit, Wissen und Logik aus einem Bereich zu abstrahieren und auf einen völlig neuen, unbekannten Bereich anzuwenden. Eine AGI bräuchte nicht für jede neue Aufgabe ein komplett neues Training mit Millionen von Beispielen. Sie würde lernen wie ein Mensch: schnell, flexibel und durch das Verstehen von grundlegenden Prinzipien.

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Wichtig: Eine solche AGI existiert heute nicht. Sie ist Gegenstand von Forschung und intensiven philosophischen und technischen Debatten. Niemand weiß sicher, ob oder wann wir sie erreichen werden. Schätzungen reichen von "in 10 Jahren" bis "niemals". Aber die Jagd nach ihr ist der Motor hinter vielen der fundamentalen Durchbrüche in der KI.

Skifahrer auf einem Berg
Nicht jedes Wissen oder Gefühl lässt sich für eine Maschine beschreiben | Quelle: Mihaly Köles

Teil 2: Die drei riesigen Hürden auf dem Weg zur AGI

Wenn wir die exponentielle Entwicklung der KI betrachten, könnte man annehmen, dass der Weg zur AGI nur eine Frage der Zeit ist. Wir brauchen nur noch mehr Daten, noch größere Modelle und noch schnellere Computer, und irgendwann wird die quantitative Steigerung automatisch in qualitative, menschenähnliche Intelligenz umschlagen.

Doch diese Annahme ist wahrscheinlich falsch. Der Weg von der Engen KI (ANI) zur Allgemeinen KI (AGI) ist kein gerader Pfad, sondern erfordert das Überwinden von fundamentalen konzeptionellen Hürden. Mehr vom Gleichen wird uns wahrscheinlich nicht ans Ziel bringen. Hier sind die drei größten Mauern, an denen die aktuelle KI-Forschung ansteht.

Hürde 1: Echtes Weltverständnis (Common Sense)

Das vielleicht größte Defizit heutiger KI-Modelle ist das völlige Fehlen von dem, was wir "gesunden Menschenverstand" oder Common Sense nennen. Das ist das riesige, unsichtbare Netz aus implizitem Wissen über die physikalische und soziale Welt, das wir Menschen durch unsere Lebenserfahrung aufbauen.

  • Wir wissen, dass ein nasser Boden rutschig ist, ohne dass uns das jemand explizit beibringen muss.
  • Wir wissen, dass man einen losen Faden ziehen und nicht schieben kann.
  • Wir verstehen, warum ein Witz lustig ist oder warum eine Situation peinlich ist.

Heutige KI-Modelle haben nichts davon. Sie simulieren Wissen, indem sie statistische Muster in Texten erkennen.

Beispiel: Ein Large Language Model (LLM) kann einen perfekten, physikalisch korrekten Satz über einen vom Baum fallenden Apfel bilden. Das liegt aber nicht daran, dass es das Konzept der Schwerkraft "versteht". Es liegt daran, dass es in seinen Trainingsdaten unzählige Texte gelesen hat, in denen die Wörter "Apfel", "Baum" und "fallen" in diesem Zusammenhang vorkamen. Es reproduziert das Muster, ohne das zugrundeliegende Prinzip zu kennen.

Dieses fehlende Weltverständnis ist der Grund, warum KI oft absurde, unlogische Fehler macht, die kein Kind machen würde. Der Aufbau dieses impliziten Wissens, das nicht in Texten steht, sondern durch Interaktion mit der Welt gelernt wird, ist eine der größten ungelösten Herausforderungen.

Hürde 2: Kausalität statt Korrelation

Eng mit dem Common Sense verbunden ist die zweite Hürde: das Verständnis von Ursache und Wirkung. Heutige KI-Systeme, insbesondere solche, die auf Deep Learning basieren, sind brillante Korrelations-Maschinen. Sie sind unübertroffen darin, Muster und Zusammenhänge in Daten zu erkennen.

  • Sie lernen: "Menschen, die Sportschuhe kaufen, kaufen oft auch Sportkleidung." (Korrelation)
  • Sie lernen: "Am Morgen kräht der Hahn, und kurz danach geht die Sonne auf." (Korrelation)

Was sie aber nicht verstehen, ist die Kausalität – die Beziehung von Ursache und Wirkung.

  • Sie verstehen nicht, dass das Bedürfnis nach Sport die Ursache für den Kauf beider Artikel ist.
  • Sie verstehen nicht, dass die Erddrehung die Ursache für den Sonnenaufgang ist und das Krähen des Hahns nur eine Reaktion darauf. Eine KI könnte genauso gut annehmen, dass das Krähen des Hahns die Sonne aufgehen lässt, weil diese Ereignisse immer zusammen auftreten.

Beispiel: Eine KI weiß aus den Wetterdaten, dass auf Blitze oft Donner folgt. Aber sie versteht nicht, dass die elektrische Entladung (der Blitz) die Ursache für die Schallwelle (den Donner) ist.

Dieses kausale Verständnis ist die Grundlage für echtes Problemlösen, für wissenschaftliches Denken und für die Fähigkeit, in die Zukunft zu planen. Solange eine KI nur Muster nachahmt, ohne ihre Ursachen zu verstehen, bleibt sie ein brillanter Papagei, kein echter Denker.

Hürde 3: Bewusstsein und subjektives Erleben

Dies ist die tiefste und vielleicht unüberwindbarste Hürde, die uns direkt in die Gefilde der Philosophie führt. Was genau ist Bewusstsein? Was bedeutet es, etwas subjektiv zu "erleben", Schmerz zu "fühlen", die Farbe Rot zu "sehen" oder einen eigenen "Wunsch" zu haben?

Wir können diese Phänomene nicht einmal präzise für uns selbst definieren, geschweige denn sie in Code nachbilden. Wir haben keine Ahnung, wie die elektrochemischen Prozesse in unserem Gehirn das erzeugen, was wir als subjektives Erleben empfinden.

  • Eine KI kann lernen, das Wort "traurig" in den richtigen Kontexten zu verwenden, weil sie es aus Millionen von Texten gelernt hat. Aber sie "fühlt" keine Traurigkeit.
  • Eine KI kann lernen, auf das Ziel "gewinne das Spiel" hinzuarbeiten, aber sie hat nicht den eigenen, intrinsischen "Wunsch" zu gewinnen.

Ohne eine Form von Bewusstsein, subjektivem Erleben oder intrinsischer Motivation bleibt eine KI ein rein reaktives System. Sie wird durch externe Daten und Ziele angetrieben. Sie hat keine eigene Agenda, keine Neugier, keinen Willen. Ob Bewusstsein überhaupt eine notwendige Voraussetzung für AGI ist, ist umstritten. Aber die Unfähigkeit, diese grundlegendste aller menschlichen Eigenschaften auch nur im Ansatz zu verstehen, zeigt, wie weit wir noch von einer wirklich menschenähnlichen Intelligenz entfernt sind.


Raster von Symbolen
Singularität: Der Punkt, an dem der technologische Fortschritt unumkehrbar wird | Quelle: Pawel Czerwinski

Teil 3: Die Debatte der Schöpfer und das "S-Wort"

Angesichts der gewaltigen Hürden auf dem Weg zur AGI stellt sich die logische Frage: Wie lange wird es noch dauern? Fragt man die Menschen, die an vorderster Front an dieser Zukunft bauen – die KI-Forscher, Ingenieure und Philosophen –, bekommt man keine einheitliche Antwort. Stattdessen offenbart sich eine tiefe Spaltung in zwei große Lager.

Die zwei Lager der Propheten

1. Die Optimisten und Beschleuniger (The Accelerators)
Dieses Lager, oft prominent vertreten durch die Leiter großer KI-Labore und futuristisch denkende Unternehmer, blickt auf die exponentiellen Wachstumskurven der letzten Jahre und projiziert sie in die Zukunft.

  • Ihr Argument: Die Rechenleistung verdoppelt sich weiterhin in rasantem Tempo. Die Menge an Daten wächst ins Unermessliche. Unsere Modelle werden immer größer und zeigen bereits heute emergente Fähigkeiten – also unerwartete, neue Fähigkeiten, die nicht explizit trainiert wurden. Für die Beschleuniger sind die Hürden wie Common Sense und Kausalität keine unüberwindbaren Mauern, sondern komplexe Probleme, die durch noch größere Modelle und noch mehr Daten gelöst werden können.
  • Ihr Zeitrahmen: Viele in diesem Lager halten die Ankunft einer AGI in den nächsten 10 bis 20 Jahren für plausibel, manche sogar noch früher.
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Emergente Fähigkeiten: Unerwartete Fähigkeiten, die in sehr großen KI-Modellen spontan "auftauchen", obwohl sie nicht explizit für diese trainiert wurden. Ein Beispiel ist ein Sprachmodell, das plötzlich einfache mathematische Probleme lösen kann, nur weil es auf riesigen Mengen an Text trainiert wurde.

2. Die Skeptiker und Grundlagenforscher (The Foundationalists)
Dieses Lager besteht oft aus Kognitionswissenschaftlern, Neurobiologen und KI-Forschern, die betonen, wie wenig wir über die Intelligenz selbst wissen.

  • Ihr Argument: Mehr Rechenleistung und mehr Daten sind nicht die Lösung, weil uns fundamentale, konzeptionelle Durchbrüche im Verständnis von Intelligenz fehlen. Wir können die Symptome von Intelligenz (wie das Schreiben eines Textes) immer besser nachahmen, aber wir verstehen die Ursache nicht. Sie argumentieren, dass wir zuerst die Prinzipien von Kausalität, Weltverständnis und vielleicht sogar Bewusstsein auf einer grundlegenden Ebene verstehen müssen, bevor wir sie nachbauen können. Das Skalieren der aktuellen Technologie sei wie der Versuch, durch den Bau eines immer höheren Turms zum Mond zu gelangen – man braucht stattdessen eine Rakete, eine fundamental neue Idee.
  • Ihr Zeitrahmen: Die Schätzungen in diesem Lager sind deutlich konservativer und reichen von 50 bis 100 Jahren bis hin zu "vielleicht niemals".

Wer am Ende recht behält, ist eine der spannendsten offenen Fragen unserer Zeit.

Einordnung der "Singularität": Das große "Was wäre wenn?"

In jeder Debatte über AGI fällt früher oder später das "S-Wort": die Singularität. Dieser Begriff, populär gemacht durch den Zukunftsforscher Ray Kurzweil, beschreibt einen hypothetischen Punkt in der Zukunft, an dem der technologische Fortschritt unkontrollierbar und unumkehrbar wird.

Die Idee dahinter ist folgende:

  1. Die Menschheit erschafft eine erste, menschenähnliche AGI.
  2. Diese AGI, die intelligenter ist als wir, hat als eine ihrer ersten Aufgaben, eine noch intelligentere KI zu entwerfen.
  3. Diese neue, übermenschliche KI (eine "Superintelligenz") ist noch besser darin, eine noch intelligentere KI zu erschaffen.

Dieser Prozess könnte in eine rekursive, sich selbst beschleunigende Intelligenzexplosion münden. Das Tempo des technologischen Fortschritts würde dann nicht mehr von Menschen bestimmt, sondern von einer sich exponentiell verbessernden Maschine. Die Folgen wären für uns heute unvorhersehbar.

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Wichtig: Es ist entscheidend, die Singularität als das einzuordnen, was sie ist: ein spekulatives, philosophisches Konzept, kein unausweichliches technisches Ziel. Sie ist eine mögliche Konsequenz der AGI-Frage, nicht die Frage selbst. Die Debatte darüber ist faszinierend und wichtig, um über die langfristigen Risiken nachzudenken. Sie sollte aber nicht von den sehr realen und unmittelbaren Herausforderungen ablenken, die die heutige, enge KI bereits an uns stellt.

Gebirgskette im Morgenrot
Der Blick in die Ferne ist spannend - trotzdem muss man die bereits alltägliche KI beachten | Quelle: Simon Berger

Teil 4: Der wahre Tsunami – Vergessen Sie die Superintelligenz, fürchten Sie die Bürokratie

Die Debatte über Künstliche Allgemeine Intelligenz und die Singularität ist faszinierend. Sie ist Stoff für epische Science-Fiction und wichtige philosophische Gedankenspiele. Aber während wir unseren Blick auf den fernen Horizont einer vielleicht niemals eintreffenden Superintelligenz richten, übersehen wir oft den Tsunami, der sich direkt vor unseren Füßen aufbaut.

Der Realitätscheck: Die drängendsten, gesellschaftsverändernden Fragen werden nicht von einer fernen AGI aufgeworfen. Sie werden von den "dummen", "engen", aber extrem leistungsfähigen KI-Systemen aufgeworfen, die wir heute schon haben. Die "brillanten Fachidioten" sind die eigentliche revolutionäre Kraft. Ihre Skalierung und tiefe Integration in unsere Gesellschaft wird in den nächsten 10 Jahren, zwischen 2025 und 2035, tiefgreifendere und realere Umbrüche verursachen als die AGI-Spekulation.

Die konkreten Umbrüche (2020er - 2030er)

1. Die Revolution der Arbeit: Der Aufstieg des "Zentauren"
Die wahrscheinlichste kurzfristige Folge der KI ist nicht die Massenarbeitslosigkeit, sondern eine massive Veränderung von fast allen wissensbasierten Jobprofilen. Das Modell der Zukunft ist der "Zentaur" – die hybride Zusammenarbeit von Mensch und Maschine.

  • Der KI-Copilot wird zum Standardwerkzeug in jedem Bürojob. E-Mails formulieren, Daten analysieren, Präsentationen erstellen, Code schreiben – all das wird in enger Kollaboration mit einem KI-Assistenten geschehen.
  • Der Wert menschlicher Arbeit wird sich verschieben: weg von der reinen Informationsverarbeitung (das kann die KI besser) hin zu strategischem Denken, kreativer Problemlösung, emotionaler Intelligenz und der Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Wer sich weigert, mit KI zu arbeiten, wird ins Hintertreffen geraten – nicht weil die KI seinen Job nimmt, sondern weil ein Mensch mit KI-Unterstützung ungleich produktiver sein wird.

2. Die Krise der Wahrheit: Wenn Sehen nicht mehr Glauben ist
Die generative KI hat die Büchse der Pandora geöffnet. Die Fähigkeit, auf Knopfdruck hyperrealistische, aber komplett gefälschte Bilder, Videos (Deepfakes), Audioaufnahmen und Texte zu erzeugen, wird unsere Informationsökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs bringen.

  • Die Unterscheidung zwischen echt und gefälscht wird für den Laien nahezu unmöglich.
  • Dies wird das Vertrauen in traditionelle Medien, in politische Institutionen und sogar in unsere eigenen Augen und Ohren massiv untergraben.
  • Die Bekämpfung von Desinformation und die Entwicklung von verlässlichen Verifizierungswerkzeugen wird zu einer der zentralen gesellschaftlichen Aufgaben des nächsten Jahrzehnts.

3. Die alltäglichen ethischen Dilemmata
Wir brauchen keine Superintelligenz, um mit fundamentalen ethischen Fragen konfrontiert zu werden. Die heutigen, engen KIs zwingen uns bereits jetzt dazu.

  • Wie stellen wir sicher, dass KI-Systeme, die über Kreditanträge, Versicherungsprämien oder die Vorauswahl von Bewerbern entscheiden, fair und ohne Bias arbeiten?
  • Wem gehören die Daten, mit denen diese Systeme trainiert werden, und wer profitiert von der Wertschöpfung?
  • Wie schützen wir unsere Privatsphäre in einer Welt, in der KI-gestützte Überwachung immer einfacher und billiger wird?

Diese Fragen müssen heute in unseren Parlamenten, Unternehmen und Gesellschaften verhandelt werden – nicht erst, wenn eine AGI an die Tür klopft.

4. Der Umbruch im Bildungssystem
Das Bildungssystem, das darauf ausgelegt war, Menschen Faktenwissen beizubringen, wird durch KI fundamental in Frage gestellt.

  • Müssen wir noch Fakten auswendig lernen, wenn eine KI jede Frage der Welt in Sekunden beantworten kann?
  • Der Fokus des Lernens wird sich radikal verschieben: weg vom "Was" (dem Wissen) hin zum "Wie" (der Anwendung).
  • Die entscheidenden Fähigkeiten der Zukunft werden kritisches Denken (Ist die Antwort der KI wahr und verlässlich?), Kreativität (Wie kann ich die KI nutzen, um etwas Neues zu schaffen?) und die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen (Prompt Engineering). Unsere Schulen und Universitäten stehen vor der gewaltigen Aufgabe, sich auf dieses neue Paradigma einzustellen.

Fazit: Den Horizont im Blick, die Füße auf dem Boden

Die Künstliche Allgemeine Intelligenz ist der faszinierende "Nordstern" am Firmament der KI-Forschung. 🌟 Sie ist ein tiefgreifendes wissenschaftliches und philosophisches Ziel, das uns dazu zwingt, über die Natur von Intelligenz, Bewusstsein und die Zukunft der Menschheit nachzudenken. Ob und wann wir diesen Stern erreichen werden, liegt in weiter Ferne und bleibt eine der größten offenen Fragen unserer Zeit.

Doch während wir über diesen fernen Horizont spekulieren, dürfen wir nicht vergessen, fest auf dem Boden der Gegenwart zu stehen. Denn die eigentliche, drängende Aufgabe liegt direkt vor uns. Die heutige, "enge" KI – der brillante Fachidiot – ist bereits jetzt eine der transformativsten und mächtigsten Technologien, die die Menschheit je entwickelt hat. Ihre Auswirkungen auf unsere Arbeitswelt, unsere Gesellschaft und unser Verständnis von Wahrheit sind keine fernen Hypothesen, sondern reale, bereits stattfindende Umwälzungen.

Unsere dringlichste Aufgabe ist es daher nicht, uns vor einer hypothetischen Superintelligenz zu fürchten.

Unsere Aufgabe ist es, die Regeln, die Ethik und die sozialen Strukturen zu schaffen, um die bereits existierende Künstliche Intelligenz sicher, fair und zum Wohle aller zu gestalten. Wir müssen lernen, mit diesen mächtigen Werkzeugen verantwortungsvoll umzugehen, ihre Schwächen zu verstehen und ihre Stärken zu unserem Vorteil zu nutzen.

Die eigentliche Revolution findet nicht irgendwann statt – wir sind mittendrin.


Weiterführende Fragen

Wann können wir mit einer AGI rechnen?

Darüber ist sich die Fachwelt komplett uneinig. Es gibt zwei große Lager: Die "Optimisten", die auf das exponentielle Wachstum von Rechenleistung und Daten blicken und eine AGI in den nächsten 10-20 Jahren für möglich halten. Und die "Skeptiker", die argumentieren, dass uns fundamentale Durchbrüche im Verständnis von Intelligenz selbst fehlen und die Ankunft einer AGI noch 50-100 Jahre oder länger dauern könnte.

Ist ChatGPT nicht schon eine frühe Form von AGI? Es kann doch so viele verschiedene Dinge.

Nein. ChatGPT ist ein extrem leistungsfähiger Spezialist für eine sehr breite Domäne: die Mustererkennung in menschlicher Sprache. Es ist quasi ein "universeller Text-Fachidiot". Es hat aber kein Verständnis für die physikalische Welt, kann sein Wissen nicht auf völlig neue Probleme übertragen (z.B. lernen, ein Fahrrad zu reparieren) und besitzt keinen gesunden Menschenverstand.

Wenn AGI noch so weit weg ist, warum sollten wir uns dann heute schon damit beschäftigen?

Die Beschäftigung mit AGI ist wichtig, um die langfristigen Ziele und Risiken der KI-Forschung zu verstehen. Die viel dringendere Aufgabe ist es jedoch, die Regeln und die Ethik für die heutige, enge KI zu gestalten. Die Probleme wie algorithmischer Bias, die Krise der Wahrheit durch Deepfakes und die massive Veränderung der Arbeitswelt sind keine fernen Zukunftssorgen, sondern aktuelle Herausforderungen, die wir jetzt lösen müssen. Die Art, wie wir diese Probleme heute meistern, ist die beste Vorbereitung auf jede zukünftige, noch leistungsfähigere KI.

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